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Märchen: Einführung
Uns ist in alten mæren
wunders vil geseit
von heleden lobebæren,
von grôzer arebeit
von fröuden, hôchgezîten,
von weinen und von klagen,
von küener recken strîten
muget ir nu wunder hœren sagen.
Aus: Der Nibelunge Not (1. Aventiure,
um 1200)
Das seit dem 15. Jahrhundert bezeugte Wort "Märchen"
ist eine Verkleinerungsbildung zu dem heute veralteten Nomen "Mär"
oder "Märe". Bis ins 19.
Jahrhundert war "Märchen" in der Bedeutung von "Nachricht",
"Kunde", "kleine Erzählung", aber auch im Sinne von "Gerücht"
gebräuchlich. Abgeleitet ist das Wort wohl von dem mittelhochdeutschen
Verb "mæren" , bzw. dem
althochdeutschen Verb "maren" (= verkünden,
rühmen). Schon im germanischen Sprachgebrauch findet man das Adjektiv
"mar" in der Bedeutung von "groß",
"bedeutend", "berühmt".
Der eigentliche Ursprung des Märchens liegt aber viel weiter
zurück, nämlich im Orient. Von dort gelangt es schon lange
vor den Kreuzzügen ins Abendland. In der Antike ( z. B. bei
HOMER
und PLATON) und auch im Mittelalter (z.B.
in der Kaiserchronik) stellt das Märchen noch keine selbständige
Gattung dar, sondern ist Bestandteil anderer epischer Dichtungen.
Sogar in der germanischen Heldensage lassen märchenhafte Bestandteile
schon auf ein sehr frühes Vorhandensein der Ur-Märchen in unserem
Sprachraum schließen.
Aus dem keltischen Erbe strömt Märchengut nach England, Schottland
und Irland. Sehr reich entfaltet ist das Märchengut bei allen
Slawen. Die ersten deutschen Sammlungen an Märchen
stammen von BRENTANO (1805) und insbesondere
von den Brüdern GRIMM (1812-1815).
Seither gibt es viele weitere Märchensammlungen und -aufzeichnungen,
besonders in den Alpenländern. Während sich hier deutsche, romanische
und slawische Überlieferungen mischen, ist das skandinavische Märchen
dem deutschen sehr verwandt.
Schon J. GRIMM verweist
auf Motivzusammenhänge zum germanischen Heldenepos, zur Tierfabel
und zum romanischen Märchen.
Seit HERDER entwickelt sich eine eigene
literaturwissenschaftliche Theorie des Märchens. Es wurden seither
zahlreiche vergleichende Untersuchungen der Märchen aller Länder
und
Erdteile durchgeführt, ausgebreitete Märchenwanderungen nachgewiesen
und vielfältige anthropologische und mythologische Deutungen vorgelegt.
Unter einem Volksmärchen versteht
man dank genauer Definition der Literaturwissenschaft eine kürzere
volksläufig-unterhaltsame Prosaerzählung von phantastisch-wundersamen
Begebenheiten ohne zeitliche und räumliche Festlegung. Dabei ist die
Hauptfigur des Märchens stets so gezeichnet, dass sie zur Identifikation
anregt.
Typisch sind
* das Eingreifen übernatürlicher Gewalten ins Alltagsleben
* redende und Menschengestalt annehmende Tiere
* Tier- oder Pflanzengestalt annehmende verwunschene Menschen
* Hexen, Zauberer, Feen, Zwerge, Riesen, Drachen u. ä.
* Bestrafung des Bösen - Belohnung des Guten (Happy End)
* einfache Form - eindimensionales Erzählen.
Das Volksmärchen ist aus dem Erzählen des Volkes hervorgegangen
und hat den Zusammenhang mit der Erzählweise des Volkes nicht verloren.
Es ist daher auch Gegenstand der Volkskunde. In der Erzählweise wird
die ganze Welt eingefangen: alles in ihr ist an seinem Platz.
Das Volksmärchen ist auf einfache, naive Weise eine erzählerische,
in sich geschlossene Bewältigung der Welt.
Neben dem reinen Volksmärchen entwickelte sich das Kunstmärchen.
Das Kunstmärchen
geht ebenfalls auf die im höfischen Epos, Tierepos und Volksbüchern
des Mittelalters verarbeiteten Motive zurück. Es ist bewußte
Kunstschöpfung eines Dichters, der wohl die Erzähltechnik und
die Motive des Volksmärchens übernimmt, sein Werk aber
mit voller Absicht dichterisch gestaltet. Im französischen Rokoko
beginnt das Kunstmärchen, sich als witzige, ironische, satirische
Kunstform zu verselbständigen und in Vers oder Prosa zur geistreichen
Unterhaltung der aufgeklärten Gesellschaft beizutragen.
Noch TIECKs
frühe Märchen sind satirisch - auf der Höhe der Romantik
erfolgt der Umschlag zum Märchen als ´bewußte Poetisierung
der Welt` mit Durchbrechung der Wirklichkeit, Erfahrung und Kausalität
sowie der Loslösung von Zeit und Raum :
GOETHE, FOUQUÉ, CHAMISSO,
später auch HAUFF.
Doch spielen in diese (im Grunde immer noch volkstümlichen)
Formen dann auch philosophische (NOVALIS)
und dämonische Elemente (E.T.A. HOFFMANN)
mit hinein und belasten somit die Form des Märchens durch Symbolik
und subjektive Problematik.
Im Realismus treten dann auch MÖRIKE,
RAIMUND, KELLER, STORM, O. LUDWIG und Marie
von EBNER-ESCHENBACH als Märchendichter
hervor.
Zum Vorbild für moderne Märchendichtung
wird der dänische Dichter Hans Christian
ANDERSEN (1847 und 1876) in seiner typischen
Verbindung von Realistik und behäbigem Humor. Im 19. Jahrhundert werden
dann noch zahlreiche Märchen der Weltliteratur (z. B. auch japanische)
ins Deutsche übersetzt.
Nicht nur durch das herkömmliche Märchenbuch,
sondern auch durch die modernen Medien (Hörspielkassetten, Radio,
Fernsehen, Kinoverfilmungen und sogar Computersoftware, die wahlweise mit
weiblicher oder männlicher Stimme die Texte, z. B. die nachfolgenden,
vorliest) finden Märchen gerade heutzutage eine noch nie dagewesene
Verbreitungsvielfalt. Kinder brauchen Märchen und lieben es, sich
mit ihnen zu beschäftigen. So ergibt sich die Bedeutung der Gattung
einerseits aus der Funktion des Märchens für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung
und andererseits aus ihrer Rolle im Prozess der literarischen Sozialisation.
Glaubt man der Entwicklungspsychologie, dann ist der Wert des Märchens
für die kindliche Entwicklung auch am Ende des 20. Jahrhunderts ungebrochen.
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