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Der didaktische
Gehalt der Fabel
> Schüler-, Gesellschafts- und
Fachrelevanz <
Über die didaktische Absicht der Fabel selbst ist bereits im
vorigen Kapitel gesprochen worden; im folgenden Abschnitt soll der
pädagogische Wert dieser Gattung für den Literaturunterricht
analysiert werden.
Um es gleich vorweg zu sagen: Zwei wesentliche Argumente sprechen
dafür, dass die Fabel auch im modernen Deutschunterricht ihre Funktion
und Bedeutung hat:
1. Sie verdeutlicht, was gute Literatur allgemein
zu leisten vermag,
nämlich Probleme
und Konflikte aus den verschiedensten Bereichen
menschlichen Seins bewusst
zu machen und Lösungsstrategien dafür anzubieten.
2. Sie ist aufgrund ihrer Kürze und ihres
Aufbaus vorzüglich geeignet,
die Schüler an die
systematische Textanalyse heranzuführen; das gilt sowohl für
die inhaltliche wie auch
für die formale Arbeit an Texten.
Im Mittelpunkt soll zunächst soll die Frage stehen: „Was
leistet die Fabel für die vom Schüler jetzt und später zu
realisierende Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit
?"
Der Literaturunterricht in der Sekundarstufe I zielt auf junge
Menschen, deren Welt- und Sachverständnis sich gerade erst etabliert.
Aufgabe des Literaturunterrichts muss es daher sein, dem Schüler durch
geeignete Texte Informationen über die Welt als Befriedigung von gegenwärtigen
Informationsbedürfnissen
anzubieten und ihm damit eine Daseinsorientierung zu ermöglichen,
die (auf die gegenwärtige Lebenspraxis des Schülers
bezogen) für den Schüler eine "Hilfe beim Aufwachsen"
bedeutet und die (auf die Zukunft des Schülers und der
Gesellschaft bezogen) eine "Weltkenntnis als Bestandteil einer allgemeinen
Lebensqualifikation" schafft.
Dieser Aufgabe wird die Fabel in besonderer Weise gerecht. Sie bietet
dem Schüler ein Denkmodell, eine auf klare Grundverhältnisse
des Lebens reduzierte Situation an, auf deren unterer Ebene sich
Ereignisse in beinahe märchenhafter Form innerhalb des Tierreiches
vollziehen: Tiere sprechen und handeln wie Menschen. Von der höheren
Ebene aus zeigt sich aber, dass das anschauliche Geschehen auf der unteren
Ebene parabolischen Charakter hat und somit eine allgemeine Bedeutung erlangt.
Hat der Schüler die Fabel als parabolische Sprachform erkannt,
so ermöglicht sie ihm eine Daseinsorientierung in zweifacher Hinsicht,
zum einen, indem sie das Verständnis für fundamentale menschliche
Situationen erschließt, zum anderen, indem
sie mit ihrer realistisch unbequemen Wahrheit den Blick auch für
die unerfreulichen Seiten des Lebens öffnet. Deshalb darf sich
der Unterricht nicht mit der Betrachtung der Erzählseite einer Fabel
begnügen, sondern muss von vornherein auch die Sinnseite mit in die
Betrachtung einbeziehen: „Auf welche Gelegenheit passt dieses Denkmodell?
Welche Situation, welche gesellschaftliche Konstellation wird durch
dieses Modell erhellt?"
Indem sich der Schüler mit dieser Fragestellung auseinandersetzt,
wird von ihm ein Erkenntnisprozess gefordert, der sowohl von existenzieller
als auch von fachspezifischer Bedeutung ist. Anhand der Fabelbetrachtung
erkennt der Schüler, dass literarische Texte einen Informationsgehalt
über die Welt und über bestimmte, vom Dichter gestaltete Momente
der Wirklichkeit enthalten.
Über die Erkenntnis des Wirklichkeitsbezuges der Fabel und
der Literatur insgesamt, gelangt der Schüler zu einer eigenen Identitätsgewinnung,
indem er die Aussagen des auf die Wirklichkeit bezogenen Textes mit seinen
eigenen Vorstellungen von der Welt vergleicht, das Verhalten der
agierenden Figuren seinen eigenen Verhaltensnormen gegenüberstellt
(„Wie hätte ich mich in dieser Konfliktsituation verhalten?" )
und indem er die in den Fabeltexten dargestellten Geschehnisse auf
Ereignisse aus seinem eigenen Erfahrungsbereich überträgt.
Neben der Daseinsorientierung und Identitätsbildung kommt der
Fabel im Literaturunterricht noch eine besondere Bedeutung bei der Persönlichkeitsbildung
des Schülers zu. Als parabolische Rede ist die Fabel eine spezifische
Sprachform des kritischen Denkens. Sie wendet sich an den Verstand; sie
will diskutiert werden, will Kritik herausfordern und somit die Kritikfähigkeit
des Schülers fördern.
Die Fabeln stellen dem Schüler Konfliktsituationen
vor, die ihn zur distanzierten Auseinandersetzung mit den gegebenen Umständen
veranlassen, und sie bieten Konfliktlösungsstrategien
an, die zur kritischen Prüfung der dargestellten Verhaltensweisen
herausfordern und zugleich zur selbstkritischen Überprüfung seiner
eigenen Denk- und Verhaltensweisen. Diese kritische Reflexion seiner
eigenen Denk- und Verhaltensweisen ermöglicht dem Schüler schließlich
in gewissem Umfang eine Selbsteinschätzung der eigenen Person und
seiner Verhaltensmuster in akuten Situationen, die zur grundlegenden Voraussetzung
wird für die Fähigkeit sozialer
Interaktion und Kommunikation. Das bedeutet letztendlich die Fähigkeit
der Konfliktbewältigung im eigenen Alltag des Schülers, da die
Fabel Probleme und Konflikte und entsprechende Lösungsstrategien aus
verschieden Bereichen des Lebens vorstellt.
Zum Erwerb einer „fachlichen Literatur- und Lektürekompetenz"
ist es notwendig, den Schülern Kenntnisse über die Gattung
„Fabel" selbst, d.h. über die kennzeichnenden Strukturelemente und
Gestaltungsprinzipien sowie über die Gattungsgeschichte zu vermitteln.
Daher ist es von didaktischer Relevanz, dass die Schüler nicht
nur über den Realitätsbezug
und die didaktisch-kritische Intentionalität der Fabel Bescheid wissen,
sondern auch Kenntnisse über das Figureninventar, die Typisierung
der Fabelfiguren, die sprachlichen Ausdrucksformen, die Kompositionsprinzipien
und den Aufbau der Fabel sowie über die Verbindung von epischen und
dramatischen Elementen erwerben, um die Fabel als Gattung identifizieren
und sie von anderen literarischen Formen unterscheiden zu können.
Für die Bildung und Förderung einer "literarischen Kompetenz"
ist es wichtig, neben den gattungskonstituierenden Merkmalen der
Fabel auch die individuellen ästhetischen Besonderheiten der einzelnen
Texte zu berücksichtigen.
Durch die Unterscheidung der epischen und dramatischen Momente der
Fabel lässt sich am relativ einfachen Beispiel die Grundlage für
eine spätere Erarbeitung und Definition der Begriffe 'Epik' und 'Dramatik'
schaffen.
Schließlich führt der dramatische Charakter der Fabel
dahin , die Fabel im Unterricht mit verteilten Rollen lesen zu lassen,
wobei ein Sprecher jeweils den epischen Teil vorträgt. Besonders geeignet
sind hierzu Fabeln, die eine längere Rede oder eine umfangreichere
Wechselrede enthalten.
Weiterhin legt es der dramatische Charakter der Fabel nahe , dass
besonders geeignete Fabeltexte im Unterricht auch zum Spiel umgestaltet
werden können. Wichtig ist allerdings für die Ausgestaltung einer
Fabel zum parabolischen Spiel, dass die Schüler bereits etwas vom
Realitätsbezug und der didaktisch-kritischen Intentionalität
der Fabel verstanden haben, so dass sie auf eine naturalistische Darstellung
der Fabeltiere verzichten.
Das Rollensprechen und Spielen von Fabeln bietet besonders den Schülern,
die sich am Unterrichtsgespräch nur in geringem Maß beteiligen,
die Möglichkeit, vor der Klasse frei zu sprechen und zu agieren und
trägt so dazu bei, ihre Sprechangst und Befangenheit abzubauen.
Zudem kommt der Darstellung des dramatischen Strukturmerkmals der
Fabel eine propädeutische Bedeutung für die spätere Behandlung
von Dramen zu.
Die Schüler können am Beispiel des Fabeldialogs, in dem
eine dramatische Konfliktsituation ausgestaltet wird, ein Grundmuster dramatischer
Literatur kennenlernen.
Auf dieser Grundlage können die Schüler später z.
B. anhand einer vergleichenden Untersuchung des Biedermann-Motives bei
Max Fritsch (Erzählung, Hörspiel, Schauspiel) erkennen,
dass die gleichnishafte Rede wie das gleichnishafte Spiel eine besondere
Art des Verstehens der Welt und des Bewältigens von Lebenssituationen
ist.
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