Einführung und kurzer Überblick
Gegenstand dieser Arbeit ist die rund zweieinhalbtausend Jahre alte Literaturgattung
der Fabel.
Der Begriff „Fabel" geht auf das lateinische Wort
"fabula" (=Geschichte, Erzählung, Gespräch) zurück
und bezeichnet heute die typische Art der Tierdichtung in Vers oder Prosa,
die eine allgemein anerkannte Wahrheit, einen moralischen Lehrsatz oder
eine praktische Lebensweisheit anhand eines pointierten, doch
analogen Beispiels in uneigentlicher Darstellung veranschaulicht und besonders
durch die Übertragung menschlicher Verhaltensweisen, sozialer Zustände
oder politischer Vorgänge auf die belebte oder unbelebte Natur witzig-satirische
oder moralisch-belehrende Effekte erzielt. (1)
(Vgl. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart!)
Gotthold Ephraim Lessing
Der Esel
und der Wolf
Ein Esel begegnete einem hungrigen Wolfe.
„Habe Mitleiden mit mir", sagte
der zitternde Esel, „ich bin nur ein armes,
krankes Tier; sieh nur, was für einen Dorn ich mir in
den Fuß getreten habe!"
„Wahrhaftig, du dauerst mich",
versetzte der Wolf, „und ich finde mich mit meinem Gewissen verbunden,
dich von diesen Schmerzen zu befreien."
Kaum war das Wort gesagt, so ward der
Esel zerrissen.
Dieses Beispiel enthält alle kennzeichnenden Strukturelemente
und Gestaltungsprinzipien einer typischen Fabel:
-
Tiere als Akteure
-
die Typisierung der Fabelfiguren (der böse, hinterlistige
Wolf < > der einfältige Esel)
-
das Prinzip der polaren Gegensetzung
-
die Zeit- und Ortlosigkeit
-
der pointierte Schluss
-
die sprachliche Kürze und Prägnanz
-
die Dreigliedrigkeit
-
den geringstmöglichen Umfang
-
die Verbindung von erzählerischen und dramatischen Elementen
-
der Wirklichkeitsbezug
-
die versteckte Aussageabsicht
-
die Existenz- und Gesellschaftskritik
In den folgenden Kapiteln werden diese Strukturelemente und Gestaltungsprinzipien
der Fabel ausführlich erklärt.
nächste Seite
Inhaltsverzeichnis
|